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Ludwig Laher

Steffl zu Kirchschlag

Ich habe Ludwig Steffls Grab gleich gefunden. Es liegt hinter der Kirche, direkt gegenüber dem rückwärtigen Eingang, dritte Reihe. Fünfundneunzig Prozent der Inschriften in dieser Gegend des Friedhofs sind nicht mehr lesbar. Seine tadellos. Ludwig Steffl ist neununddreißig Jahre alt geworden.

Ich bin aufs Gemeindeamt gegangen, wollte mehr herausfinden. Es war gegen Mittag, die Tür zu einem angeschlossenen Wirtshaussaal stand offen. Dort saßen zwei Frauen. Ich grüßte und fragte die erste, ob sie Deutsch spreche. Ja, sagte sie. Ob Parteienverkehr sei heute. Ja, sagte sie. Ob auch wer von den Gemeindebediensteten Deutsch spreche? Nein, sagte sie, worum geht es denn?

Ach, meinte ich, eine alte Geschichte, es geht um einen gewissen Ludwig Steffl. Das war mein Großpapa, sagte Gertrude mehr verwirrt als überrascht.

Darf ich mich kurz zu Ihnen setzen? fragte ich. Ja, sagte sie, ich habe ihn aber nicht mehr persönlich gekannt. Das weiß ich, antwortete ich, am 29. April 1942 war er tot. Ob ihr bekannt sei, daß er kurz vorher im Lager war? Freilich, sagte sie, er sei gebrochen und schwerkrank von dort zurückgekommen und ein gutes Jahr später an den Folgen gestorben. Warum er ins Lager kam, wo es lag, davon hatte sie keine Ahnung.

Ins Lager kam er wahrscheinlich, weil er dem Bürgermeister ein Dorn im Auge war oder weil er einmal einen falschen Satz gegen die Nazis gesagt hatte. Kirchschlag 20 war ein großer, gut bewirtschafteter Hof, offiziell hat man den Bauern Ludwig Steffl als asozialen Arbeitsscheuen eingeliefert. So war es üblich.

Meine Mutter war siebzehn, als sie ihn geholt haben, sagte Gertrude.

Das Lager war, wo ich zuhause bin, erklärte ich, im oberösterreichischen Innviertel. St. Pantaleon-Weyer hieß es, und der Reichsgau Oberdonau hat es sich als zusätzliches Gaulager eingerichtet, weil die drei Dutzend Nebenlager von Dachau und Mauthausen im Land offensichtlich nicht ausreichten. Zeugenaussagen zu den Folterungen an Ihrem Großvater sind erhalten.

Ich habe übrigens vor kurzem ein Buch, einen Tatsachenroman über damals geschrieben, sagte ich, „Herzfleischentartung“ heißt er. Auch der nach dem Krieg spurlos verschwundene Ludwig Steffl kommt darin kurz vor. Als die Volksgerichtsprozesse gegen das Mordpersonal anberaumt wurden, hat man sich 1947 nämlich vergeblich bemüht, ihn als Zeugen der Anklage ausfindig zu machen.

Offensichtlich hat keiner mehr daran gedacht, daß Oberdonau im Dritten Reich auch diese Region hier einschloß. In Kirchschlag sei leider kein Steffl bekannt, wurde dem Gericht beschieden. Aber die Behörden hatten ihn in Kirchschlag im oberösterreichischen Mühlviertel gesucht, nicht in Světlík fünfzig Kilometer nördlich in der wiedererstandenen Tschechoslowakei.

Da war er schon lange tot, sagte Gertrude.

Derzeit lebe ich in Český Krumlov, in Krummau, erklärte ich weiter, und schreibe zurückgezogen an meinem neuen Buch. Darin geht’s um ganz andere Dinge. Über die Hügel bin ich aber trotzdem heute hierher gewandert, um Nachschau zu halten, Nachbetrachtung.

Meine alte Tante im bayerischen Buchloe weiß noch viel mehr über den Großpapa, sagte Gertrude. Sie schrieb mir die Adresse auf.

Was hat Ihre Familie nach dem Krieg gemacht? fragte ich.

Die Mutter blieb da, heiratete, mein Bruder lebt heute noch auf Großpapas Hof. Ihre Geschwister sind nach Deutschland gegangen. Es war ja eine schwere Zeit.

 

Das Egon-Schiele-Art-Centrum in Krummau, mein temporärer Wohnsitz, ist Ausgangspunkt zahlreicher Wanderungen. Die Friedhöfe der kleinen Dörfer, durch die ich komme, besuche ich alle. Hier liegen die gesammelten Toten des letzten Jahrhunderts, des ganz späten Mittelalters also, friedlich nebeneinander.

Familie steht auf dem einen Grabstein, die Namen und Daten, dann: Ruhet in Frieden! Gleich daneben Rodina, Namen, Daten und: Vzpomínáme!

Nationalistische Barbarei an der tschechischen Bevölkerung, vielfacher Mord und Vertreibung zuerst, Zwangsaussiedlung auch Unschuldiger, nur weil sie Deutsche waren, Übergriffe von Tschechen und zuweilen mörderische Selbstjustiz Rachesüchtiger nachher. Heute noch wirkt die Gegend merkwürdig verwundet, auch wenn sie nichts von ihrem herben Reiz eingebüßt hat. Und diese Verwundungen finden auch auf den Friedhöfen unterschiedlichen Ausdruck:

In Přídolí/Priethal hängt am alten Eisentor tschechisch und deutsch ein Anschlag des Bürgermeisters: Der Friedhof werde bald einmal von Grund auf saniert. Seit Jahrzehnten nicht mehr gepflegte Gräber würden aufgelassen, die Steine und Kreuze aber aufbewahrt. Die Gemeinde bittet Besucher von auswärts, allfällig bestehende Kontakte zu anderen Grabbesitzern zu nutzen und diese zu verständigen, weil man von vielen Angehörigen keine Adressen habe. Es liege ihm viel daran, Mißverständnisse zu vermeiden, schließt der Bürgermeister vielsagend.

In Slavkov/Lagau umschließt die frisch getünchte Friedhofsmauer überhaupt keinen Gottesacker mehr. Das heißt, keinen gewöhnlichen. Hunderte Sockel sind hier gemeinsam mit einzelnen Schmiedekreuzelementen, mit buntfarbigen Resten christlicher Ikonographie und anderen Spurenelementen einstiger Gräberreihen zu einem riesigen Mahnmal aufgetürmt worden, der Rest ist Wiese, die neuen Toten werden woanders begraben.

 

Immer schon ist himmelschreiendes Unrecht nur scheinbar von einem sogenannten Volkskörper dem anderen angetan worden, auch wenn solcher Unsinn heute noch in vielen Geschichtsbüchern nachzulesen ist und Kinder in diesem Ungeist erzogen werden. Der simple Glaube an eine Homogenitätsfiktion konnte sich verfestigen, weil einerseits kollektive Erinnerung verstärkend wirkt und andererseits effektive Propaganda stets Fronten zu ziehen weiß. Die Wahrheit aber ist beruhigend komplizierter und, am Detail festgemacht, doch wieder so selbstverständlich einfach.

Die Steffls sind mir ein ausgezeichnetes Beispiel. Wer wollte abstreiten, daß auch unzählige Sudetendeutsche in NS-Lagern gelitten haben, von Deutschen und Österreichern ermordet oder zu Krüppeln geschlagen wurden wie der arme Ludwig Steffl aus Světlík/Kirchschlag?

Wer wollte abstreiten, daß Jahrhunderte gemeinsamen Lebens von altösterreichischen Tschechen und Deutschen nicht nur in Südböhmen das jeweils reine Blut erfrischend durchmischt haben? Auf den Friedhöfen der Region geben deutsche Inschriften zu tschechischen Familiennamen und tschechische zu deutschen beredtes Zeugnis.

Auf einem solchen liegen zwei andere Stefflgräber nur wenige Meter auseinander. Das eine beherbergt die Familie des Karl Steffl und das andere eine Rodina Štefflova. František Šteffl schrieb sich mit einem Háček nicht nur auf dem S des Vornamens. Sechsundzwanzig Jahre nach seinem Tod gesellte sich auch seine Frau Kateřina Štefflova wieder zu ihm.

 

Die Barbarei, das hat die Geschichte erwiesen, steht immer vor der Tür. Was allenfalls als Fortschritt erreichbar wäre? Nun, vielleicht weigern sich irgendwann in aller Welt möglichst viele Šteffls mit Háček, den Steffls ohne Háček den Schädel einzuschlagen und umgekehrt, obwohl diese oder jene angeblich so fremd und verschlagen sind und man ihrem Eroberungsdrang zuvorkommen muß. Mehr wage ich nicht zu hoffen.